Fliegende Pferde

 

Das donnernde Geräusch kam näher, machte kehrt und man hörte es in die andere Richtung wieder verschwinden. Sie dachte an den letzten Satz des Buches, es stimmte. Ja, wirklich, es stimmte. Das donnernde Geräusch kam wieder näher, es verebbte langsam. Es blieb vor ihr stehen, es schnaubte, drehte sich um, und galoppierte wieder davon, die Hinterläufe in die Höhe schmeißend. Dann bockte es einmal, zweimal, es schien als wenn es fliegen würde. Ja, der letzte Satz stimmte wirklich. Nicht nur der Letzte, alles Erzählte stimmte.
Ihr Herz machte einen Satz als es erneut donnernd und im wilden Galopp auf sie zukam. Sie gehörte zu ihr, diese wilde Araberstute war ihre, sie bildeten eins.
Flying Black, fliegende Schwarze, war ihre, diese zierliche, hübsche, elegante Araberstute. Sie war nicht zu beschreiben, selbst im Schritt ging sie graziös. Flying Black kam auf sie zugetänzelt. „Na, meine Hübsche!“ begrüßte Maike sie, Maike war die Abkürzung für Mikaela.
Es fing mit einem Zettel an Flyings Box an. Darauf hieß es: „Finde die Wahrheit!“ Was für eine Wahrheit, dachte Maike. Der am nächsten Tag folgende Zettel war persönlicher: „Du sollst sie erfahren. Sie ist seit Jahrhunderten für dich bestimmt. Sie wurde geschrieben, damit du sie lesen kannst! Ich hoffe du findest sie, die Wahrheit!“ Maikes Interesse war geweckt, doch wo sollte sie suchen? Am dritten Tag kam der letzte Hinweis, und er half ihr auch: „Suche die Wahrheit da, wo du dein Wertvollstes aufbewahrst, da wo du dein Kostbarstes hast.“
Sie dachte an Schmuck. Sie rannte ins Haus, durchwühlte die Schmuckkiste - nichts, was hätte sie auch anderes erwarten können. Maike setzte sich hin, war enttäuscht, wer hatte sich einen so üblen Scherz mit ihr erlaubt? Sie konnte es nicht leugnen, sie hatte sich Großes verhofft.
Maike las den Zettel erneut - nein, dieser Jemand konnte nur Schmuck gemeint haben. Doch wieso hingen alle Hinweise an Flying Blacks Box? Sie schüttelte den Kopf, an was sie jetzt dachte, konnte eh nicht stimmen. Meinte er sie, Flying Black als Kostbarstes? Klar, für Maike war sie kostbarer als jeder Schmuck - Flying war unbezahlbar - für sie zumindest. Aber warum sollte sie die Wahrheit über ihr Pferd, ihren Araber erfahren? Maike wusste alles über ihre Stute, welche Eltern sie hatte, wo und wie sie geboren wurde, auch wie sie aufgewachsen war und man schließlich versuchte sie zu bändigen, bis sie endlich zu ihr kam.
Doch Maike wollte nicht noch mehr Zeit versäumen, so ging sie nach draußen und zum Stall, welcher eigens für Flying Black restauriert wurde, er sollte erst abgerissen werden. Sie ging in ihre Box und suchte nach etwas, wobei sie gar nicht wusste nach was, nur, dass sie nach der Wahrheit suchen musste, welche auch immer. Maike durchwühlte jede Ecke, doch sie stieß auf nichts, außer auf ein paar Mäuse, die erschreckt vor ihr flüchteten. es wurde langsam dunkel, Flying Black musste in den Stall gebracht und versorgt werden. Also machte sich Maike auf den Weg zur Koppel, schlenderte durch das kurze Waldstück und kam schließlich bei Flying Black an. Die schwarze Stute graste am anderen Ende der Koppel, Maike pfiff durch die Zähne, Flying hob ihren Kopf und flog ihr zugleich in einem weit ausgreifenden Galopp entgegen. Sie schmiss freudig ihren Kopf in die Höhe und gab ein schmetterndes Wiehern von sich, ehe die Stute kurz vor Maike zum Stehen kam. Das Mädchen legte Flying  Black vorsichtig den Hanf-Strick-Ring um den Hals und schwang sich stilvoll auf den glänzenden Rücken des Pferdes. Als sie obenauf war, ergriff sie einige Strähnen von Flyings ebenfalls pechschwarzer Mähne, und trieb die Stute mit einem leichten Schenkeldruck zum Gehen an. Diese lief im tänzelnden und doch gemütlich zu sitzenden Schritt Richtung Stall.
Die Gebäude standen schon seit Jahrzehnten, nur die Renovierungen ließen das Wohnhaus, die Scheune und den Stall, der mit vier Boxen versehen war, neuer erscheinen, als sie eigentlich waren.
Während Maike das Heu aufschüttelte, das Kraftfutter mischte und schließlich das  Wasser erneuerte, stand fliegende Schwarze in ihrer  Box und beobachtete Maike aus feurig - sanft blickenden Augen. Da Maike nichts in ihrer Box gefunden hatte, beschloss sie, die Box Morgen komplett auszumisten, vielleicht würde sie etwas entdecken? Als sie schließlich ihr schwarzes Pferdchen zu Ende versorgt hatte, massierte Maike noch kurz Flying Blacks Hals und wanderte mit ihren Fingern noch bis zum Kopf der zierlichen Araberstute. Diese genoss es sichtlich und Maike gab ihr als  Abschluss noch einen zärtlichen Gute-Nacht-Kuss auf Blacks samtene Nase. Sie wusste gar nicht nach was sie suchen sollte, außer nach der Wahrheit, aber Maike brannte  danach ES zu finden.
Um acht Uhr früh wurde Maike schlagartig wach, Flying hatte gewiehert, sie erinnerte sich an die Wahrheit nach der sie suchen sollte. So schnell wie nie war sie in ihre Stallsachen geschlüpft und machte sich auf den Weg zu ihrer Hübschen. Maike wollte keine Zeit für eine überschwängliche Begrüßung verschwenden und so fiel sie recht spärlich für Flying aus, und Maike schwang sich auch sogleich auf ihren Rücken ohne den Hanf-Strick-Ring um ihren Hals gelegt zu haben. Maike saß stolz auf Flyings Rücken, welche zitternd ihre Nüstern blähte und die Ohren angespannt in Richtung Koppel richtete. „Was ist denn los, mein Mädchen?“ Daraufhin bog sie ihren Kopf zu Maike und stupste leicht Maikes Bein an. „Okay Mädchen, auf geht’s!“ Dabei drückte sie die Beine enger an die Flanken der Stute, welche sofort auf die Hilfe reagierte und in einem rasanten Galopp Richtung Koppel davon stob. Geradeso konnte Maike sich in Flying Blacks wehender Mähne festhalten.
Zirka drei Minuten später parierte sie fliegende Schwarze zum Schritt durch. Maike ließ sich von Flying herab gleiten und führte sie, mit der Hand in ihrer fülligen Mähne vergraben, auf die Koppel. Dann strich sie der Stute über die Nüstern und meinte: „Tut mir leid, meine Liebe, das ich’s so eilig habe, aber ich will die Wahrheit wissen!“ Sie gab ihrer Stute einen Kuss auf die Nase und auch schon war Maike durch den Zaun geschlüpft und rannte heimwärts zum Stall.
Kaum angekommen überprüfte Mikaela auch noch einmal alle Ecken und Kanten und begann schließlich komplett auszumisten. Als sie nach zwei Stunden endlich schwitzend und komplett mit sich fertig war, kam etwas zum Vorschein, was früher noch nie da gewesen sein musste: Kaum sichtbar versteckte sich zwischen dem steinernen Trog und der Wand ein Scharnier, was zu einer Tür gehören musste, dann entdeckte sie einen halb zerfallenen Holzriegel, überhäuft und versteckt in Pferdemist. Maike kratzte ihn frei und versuchte ihn zu öffnen. Nach langem Gezerre gab der Riegel mit einem „Ratsch“ und „Blopp“ nach. Dahinter eröffnete sich ein kleiner Raum, der Hohlraum im Trog, darin stand eine große, besser gesagt, eine geradeso hineinpassende Truhe.
Ihr Herz machte riesengroße Sprünge, was sich darin wohl verbarg? Die Truhe schien schwer zu sein, deswegen holte Maike einen Führstrick und befestigte ihn an den Riegeln, die die Kiste verschlossen. Daran zog sie mit Leibeskräften, in der Hoffnung sie könnte die Truhe nach draußen ziehen. Doch es ergab sich nichts, weder dass die Truhe sich bewegte, noch das die Riegel nachgaben. Maike überlegte, wenn sie die Kiste schon nicht bewegen konnte, dann konnte sie vielleicht versuchen, die Riegel aufzubrechen? Also suchte Maike in der Werkzeugkiste von ihrem Vater und kam mit einigen Kneifzangen und sonstigen Werkzeugen bewaffnet zurück in Flyings Stall
Endlich - nach 20 Minuten langem Gewürge und Gewirke gaben die Riegel den Deckel der Truhe frei und Maike konnte ihn vorsichtig anheben und endgültig öffnen. Maike merkte ihr Herz kaum noch - wahrscheinlich war sie gerade so was wie klinisch tot.
Zum Vorschein kam ein stark eingebundenes Buch. Mit größter Vorsicht, in der Angst dass es gleich in alle Einzelteile zerfallen würde, hob Maike es aus der Kiste heraus. Vorne darauf war ein goldener Pegasus, in der Form, wie die Ägypter sie zeichneten, abgebildet. Maike öffnete das Buch, sie war enttäuscht. Wie sollte sie das jemals lesen? Die alten ägyptischen Schriftzeichen prangten ihr entgegen. In dem Moment bemerkte sie den feinen Goldstaub auf dem Pergamentpapier, sie berührte ihn und wie in einem Zauber flog er kreiselnd vor ihr weg. Die alte Schrift war verflogen und sie erblickte eine feine, säuberliche Handschrift in Deutsch. Fasziniert von dem kleinem Zauber vorneweg begann sie gespannt zu lesen:
„Ich sehe, mein Zauber hat gewirkt. Wir schreiben das Jahr 19 n. Chr. Mein Leben zählt 99 Jahre und ich habe viel darin erlebt. Doch nun ist es an der Zeit, dir das zu schreiben, was ich schon längst schreiben wollte. Dies ist für dich bestimmt, nur du konntest den „Schriftzauber“ auslösen, du - Mikaela von Gatow - du bist ein Nachfahre von mir. Mein Name ist Sean-Claude-Ephraim von Gatow. Ich habe mit ansehen müssen wie die fliegenden Pferde schwanden. Du wirst diejenige sein, welche sie auferstehen lässt, du allein!“ Maike konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Was sollte sie? Die fliegenden Pferde auferstehen lassen? Er meinte garantiert nicht sie, bestimmt gab es auch bei ihren Vorfahren irgendwann eine, die genauso hieß wie sie. Trotzdem konnte Maike sich nicht überwinden aufzuhören, sondern las weiter: „Früher hatten alle Pferde eine Gabe: sie konnten fliegen ohne Flügel. Jedoch, und bedauerlicherweise, verloren viele Rassen die Gabe schnell, sie wurden zu Untertanen der Menschen.“ Maike blätterte das harte Pergamentpapier um. Viele Seiten hatte dieser Sean-Claude-Ephraim beschrieben, Interessantes und auch Unwichtiges.
Doch die letzte Seite fesselte sie: „Es kam, was kommen musste, das letzte fliegende Pferd - mein Araberpferd „Ibn Pegasus“, ein Nachkomme des legendären Himmelspferd „Pegasus“ - segnete das Zeitliche. Er wollte nie mein Untertan werden, und ich ließ es auch. Er akzeptierte mich als sein Begleiter und als Mensch. Und ich verehrte ihn.
Die fliegenden Pferde kamen nie wieder, viele Leute beteten für sie, doch sie waren verstoßen - die fliegenden Pferde waren verstoßen aus einer Welt die von Menschen regiert wird. Ich habe dir ein Vermächtnis von Ibn Pegasus beigelegt, binde es in den Schopf deiner fliegenden Schwarzen, es soll dir Glück bringen die fliegenden Pferde auferstehen zu lassen. Außerdem liegt auch das Sattelzeug von meinem schneeweißen Pferd dabei - du wirst es brauchen.“ Ja, Glück kann sie gebrauchen, schließlich weiß sie noch nicht mal mit was sie anfangen soll, aber das Sattelzeug? Flying Black hatte, was sie brauchte.
Sie entwand sich ihren Gedanken und las den letzten Satz: „Du wirst es sehen, durch deine fliegende Schwarze werden die fliegenden Pferde wieder fliegen!“ Maike hatte das denken bereits aufgegeben und wandte sich der Truhe zu. Das Vermächtnis von Ibn Pegasus war ein kleines, aus Elfenbein geschnitztes Pferd mit Flügeln - Pegasus. Ein weißes Mähnenhaar war daran geknotet.
Unter einer Lage verschiedener Pergamente verbarg sich Ibn Pegasus’ Sattelzeug, früher war es sicherlich ein Prunkstück gewesen, aber jetzt...? Es war ziemlich heruntergekommen - Sattelzeug im alten arabischen Stil, welches meistens reich verziert war. Die Kordeln, die an vielen Stellen des Sattels hingen, waren stark durch Schlamm und Staub verschmutzt und teilweise auch gerissen, doch man konnte erkennen, das sie bläulicher und goldener Farbe gewesen waren. Das Sattelkissen, welches sicherlich einmal aus blauen Samt war, hatte der Zahn der Zeit auch nicht in Ruhe gelassen; es war nur noch ein stark zerfallener Stoff mit leichtem Königsblaustich. Von der Zeit auch nicht verschont geblieben worden, war der Holzrahmen. Holzwürmer hatten ihr Unwesen getrieben und das an einigen Stellen zurückgebliebene Blattgold, war auch nicht mehr die Wucht. Die Steigbügelriemen und der dazugehörige Steigbügel würden, auch ohne jeglichen Test, schon beim Aufsteigen den Geist aufgeben. Im Großen und Ganzen war der Sattel nicht mehr zu gebrauchen, geschweige denn das Zaumzeug. Das kandarenähnliche Mundstück war genauso spröde wie die Steigbügel, das Leder war brüchig und ohne jegliche Elastizität. Trotzdem waren die Backenstücke reich verziert mit Kordeln und Blattgold, wessen Qualität der des Sattels entspricht.
Im Moment hatte Maike Flying Blacks Sattel - und Zaumzeug beim Sattler, es war an einigen Stellen brüchig und musste unbedingt repariert werden. Deswegen nahm sie den schweren Sattel heraus und platzierte ihn auf den in der Höhe befestigten Sattelbock, die ebenfalls nicht gerade leichte Trense hing sie auf den Trensenhalter. Sie betrachtete es noch eine Weile, das würde eine Menge kosten um es zu reparieren.
Maike machte sich nun auf den Weg zur Koppel, sie musste Pegasus an Flying Blacks Pony befestigen. Als sie ankam wieherte ihr Flying entgegen und preschte im wilden, fliegenden Galopp auf sie zu. Maike befestigte die Figur mit dem weißen Mähnenhaar an Flying Blacks schwarzer Mähne. Dann umarmte sie herzhaft den Hals des Pferdes und lehnte ihren Kopf an die Schulter der schwarzen Stute. „Wir haben eine große Aufgabe vor uns, meine Zuckerschnute. Aber wie soll ich anfangen, womit?!“ Darauf entzog sich die Stute ruckartig aus der Umarmung und warf ihren Kopf mit einem schmetternden Wiehern hoch. Dann verschwand sie wie ein donnerndes Geräusch.

 

Jetzt stand sie hier schon eine halbe Stunde, vielleicht auch länger. Mit den drei Zetteln hatte es angefangen, jetzt stand sie hier. Das weiße Pferd mit den Flügeln prangte auf Flying Blacks Stirn. Wie wild ist sie geworden als Maike es ihr vor einer halben Stunde in den Schopf gebunden hatte. Da stand sie, zitternd vor Aufregung. Schließlich legte sie Flying die Hand auf die Stirn. „Auf geht’s, mein Mädchen, wollen wir zum Stall!“ Maike schwang sich auf den schmalen, schwarz glänzenden Rücken, ließ fliegende Schwarze im Schritt zum Tor gehen. Sie öffnete es und legte dann die Beine eng an den Bauch des Pferdes. Im Nu galoppierte die Schwarze Richtung Stall. Dort stand Flying im Hof, während Maike neu einstreute, das Kraftfutter mischte, das Heu aufschüttelte und schließlich das Wasser erneuerte. Zufrieden stolzierte fliegende Schwarze in ihre Box. Maike gab ihr noch ein Gute-Nacht-Küsschen und verschwand schließlich in Richtung Zimmer.


Früh wurde sie urplötzlich wach, ohne jeglichen Grund und so beschloss sie zu ihrem Liebling zu gehen. Sie traute ihren Augen kaum was sie da sah. Der weiße Elfenbeinpegasus war verschwunden, hinter Fliegende Schwarze lag ein weißes Knäuel. Als es sie bemerkte, stand es geschwind auf und bäumte sich wiehernd vor Maike auf, im selben Moment glitzerte und prangte es golden von der Seite: Der von Sonne überflutete Sattel funkelte wie ein einziger Edelstein, das feste Ebenholz sah frisch poliert aus, der blaue Samt und die Kordeln strahlten bunt und freudig und das Blattgold leuchtete in fülligen Gold. Die Sonne wanderte weiter auf das weiße Fohlen und die schwarze Mutter. Der kleine Hengst bäumte sich erneut auf und prangte wie pures Gold im gelben Sonnenlicht. Flying Black glänzte wie ein schwarzer Diamant. Dann begriff Maike: „Ibn Pegasus!“